Freitag, 15. Februar 2013

Locked in syndrome: Ethik vs. hippokratischer Eid

'Goodbye world the time has come, I had some fun'

Dies waren die letzten Worte, die der 58 Jahre alt gewordene Brite Tony Nicklinson durch seine Familie über Twitter an die Welt richtete.

Nicklinson starb vergangenen Mittwoch, nachdem er eine Woche lang die Nahrungsaufnahme verweigerte und darüber hinaus an einer Lungenentzündung erkrankte. Vorangegangen war diesen Ereignissen aber eine weitaus komplexerere Entwicklung, die in vielerlei Hinsicht schwierig und kontrovers zu diskutieren ist.

2005 erlitt Tony Nicklinson einen Schlaganfall.
Nun sind je nach betroffenem Areal des Gehirns die Ausfallerscheinungen, die ein solcher Schlaganfall mit sich bringt unterschiedlich schwer.

Im Fall von Tony Nicklinson verursachte der Apoplex das klinische Bild eines sogenannten "Locked-in Syndroms". Hierbei verschließt sich eine Arterie des Gehirns, die den Pons (die Brücke) des Gehirns versorgt, was praktisch eine Durchgangsstation für alle Nervenfasern darstellt.

Die Patienten sind danach vollständig gelähmt und unfähig, sich sprachlich oder durch Bewegungen zu äußern, lediglich die oft bestehende Beweglichkeit der Augen ist eine Möglichkeit zur Kommunikation mit der Außenwelt, geistig sind diese Patientin völlig uneingeschränkt, ihr Körper wird gewissermaßen zu einer Isolationszelle.

Der Film "Schmetterling und Taucherglocke beschäftigt sich mit dem Thema und basiert auf der Romanvorlage von Jean-Dominique Bauby, einem Journalisten dem ähnliches wiederfuhr und der seine Erlebnisse durch Diktate in dem Buch "Der Taucheranzug und der Schmetterling" festhielt.





Nicklinson begann den steinigen Weg sein Leben komplett neu aufzustellen. Neue Kommunikationsmechanismen mussten her, mit Hilfe von Computern und Buchstabentafeln nimmt Nicklinson Kontakt mit der Außenwelt auf, beginnt sogar zu twittern.

13. Juni: Hello world. I am tony nicklinson, I have locked-in syndrome and this is my first ever tweet.

16. Juni: Lauren is going to give me a lesson in Twitter use today. A case of teaching an old twat new Twitter tricks?

Doch trotz aller Bemühungen, Herr der Lage zu werden, wird Nicklinson schnell klar, dass viele Dinge nie mehr so sein werden wie vorher. Jeden Morgen müssen ihn zwei Schwestern aus dem Bett heben, die Prozedur wiederholt sich jeden Abend. Essen gibt es nur in pürierter Form über eine Magensonde, ständig muß ihm jemand den Speichel vom Mund wischen, er kann nicht selbstständig auf Toilette gehen und er kann seine Kinder nicht in den Arm nehmen.

19. Juni: I have always said that I want the choice so that when the time comes, I can go. 

Nun stellt sich folgendes Problem. Wie in Deutschland ist auch im UK die vorsätzliche Sterbehilfe eine Straftat, was im Normalfall durchaus verständlich ist, denn schon der zumindest historisch interessante Eid des Hippokrates sagte:

Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und ich werde auch niemanden dabei beraten; 

Für alle die behaupten/meinen, dieser Eid ist heutzutage rechtsverbindlich für Ärzte dem sei hier aus aktuellem Anlass eine weitere Textstelle nahezulegen:

auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel geben.

Nun stellt sich aber in diesem Fall hier folgendes Problem:

  1. Ein Arzt kann und darf Nicklinson nicht helfen.
  2. Ebensowenig seine Angehörigen, diese würden sich sogar strafbar machen, wenn sie ihn in ein Land bringen würden, wo Sterbehilfe praktiziert wird, etwa die Schweiz
  3. Ein Suizid kommt ebensowenig in Frage, ist Nicklinson dazu doch aufgrund seiner körperlichen Behinderung nicht in der Lage. 
Wieder schwirrt der Begriff "locked in" in der Luft, Nicklinson ist isoliert von der Außenwelt, unfähig über sein eigenes Leben zu bestimmen.



Noch mal: Wir sprechen hier über einen Menschen, der geistig völlig klar ist und sich auch entsprechend klar äußert. Nicklinson geht sogar soweit, dies als Diskriminierung anzusehen, denn wenn er nicht körperlich behindert wäre könnte er selbst aus freien Stücken sein Leben beenden wie jeder andere Mensch es rein theoretisch auch könnte.
Auf die Frage, ob er Angst vor dem Sterben hat antwortet er:

19. Juni: No but I have a fear of living like this when I am old and frail. I shall be sad, though 

Nicklinson bringt seinen Fall bis vor den Obersten Gerichtshof. Doch auch hier wird ihm im August 2012 das Recht zu sterben verweigert, Nicklinson ist am Boden zerstört, die damaligen Fernsehaufnahmen zeigen einen Mann, dessen Körper trotz Lähmung bebt, er weint und verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse.

16. August: I believe the legal team acting on my behalf is prepared to go all the way with this but unfortunately for me it means yet another period of physical discomfort, misery and mental anguish while we find out who controls my life - me or the state.

So wählte Nicklinson den, meiner Meinung nach unmenschlicheren Weg. Er verweigerte die Nahrungsaufnahme und starb a 22. August zu Hause im Beisein seiner Familie.

22. August: You may already know, my Dad died peacefully this morning of natural causes. he was 58. Before he died, he asked us to tweet: 'Goodbye world the time has come, I had some fun'

Der Fall ist deswegen interessant, weil er eine ethische Gratlinienwanderung darstellt. Man merkt ganz klar, dass gerade auch auf richterliche Ebene sich niemand hier auf ein Grundsatzurteil einlassen wollte. Von allen Seiten wurde Verständnis entgegengebracht, denn die Gründe warum Nicklinson so nicht mehr leben wollte sind eigentlich einleuchtend.
Doch wie so häufig fühlt sich niemand in der Lage eine grundsätzliche Entscheidung für einen solchen Fall zu treffen, Leben um jeden Preis ist hier die Devise.

Wir sprechen hier von einem Mann der in völligem Bewußtsein seinen Wunsch zu sterben äußert, jedoch aufgrund seiner Behinderung auf Hilfe von außen angewiesen ist.
Es ist ein Paradoxon, dass es jedem so einleuchtend ist, warum dieser Mann diese Entscheidung getroffen hat und es ihm gleichzeitig verwehrt wird.
Im Falle von Tony Nicklinson liegt ein langer Weg hinter ihm, der ihn zu diesem Punkt führte, eine generelle Amnestie für den Freitod steht hier gar nicht zur Debatte, vielmehr muss man den besonderen Umständen Tribut zollen, den alles, wirklich alles ist in Nicklinsons Leben ein wenig anders als bei uns.  

Nun könnte man ethisch hier argumentieren, dass es schwer bis unmöglich ist hier ein Grundsatzurteil zu erzwingen, da jeder für sich selbst entscheiden muss ab wann "Leben nicht mehr lebenswert ist". Doch genau diese Entscheidung hat Tony Nicklinson für sich selbst getroffen. Für ihn selber war klar, dass er unter diesen Umständen nicht mehr leben wollte und der essentiellste Grund, warum er vor Gericht zog war, weil er zum einen mit Würde sterben wollte und zum anderen nicht riskieren wollte, dass Angehörige juristische Konsequenzen zu fürchten haben.

Nun, Nicklinson ist verhungert, warum?
Weil das Einbringen einer Magensonde und der darüber zugeführten Nahrung eine Körperverletzung darstellt, wenn ich dies ohne Einwilligung des Patienten tue. Hier sind wir rechtlich ganz klar aufgestellt, verweigert der Patient diese Maßnahme ist es nicht erlaubt sie durchzuführen, im Falle einer Einwilligungsunfähigkeit gilt der mutmaßliche Wille des Patienten.

Wenn wir hier also rechtlich so gut aufgestellt sind und die Endkonsequenz dieselbe ist, warum war es nicht möglich, sich dies vor Augen zu führen und Nicklinson und seiner Familie einen angenehmeren Tod als den Hungertod zu erlauben?

Sterbehilfe ist und wird immer kontrovers zu diskutieren sein, doch darf man meiner Meinung nach deshalb nicht die Augen vor dem Offensichtlichen verschließen.
Suizidgedanken müssen ernst genommen werden und in vielen Fällen muß man solche Menschen vor sich selber schützen, da hier Affekthandlungen vorliegen. Doch ein solcher Fall liegt hier nicht vor, Nicklinson hatte einen langen Prozess der Entscheidungsfindung hinter sich und seine Argumente sind fundiert gewesen.
Weder muss es mir gefallen, dass jemand im Zustand völliger geistiger Klarheit den Wunsch zu sterben äußert, noch muss ich ihn dabei unterstützen, aber ich muss akzeptieren, dass jeder Mensch frei über sein eigenes Leben entscheiden können sollte.



 





 

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